Ausstieg aus dem Tierversuch – was Deutschland von anderen Ländern lernen kann
Ausstieg aus dem Tierversuch – was Deutschland von anderen Ländern lernen kann
Im Rahmen der gemeinsamen Kampagne „Ausstieg aus dem Tierversuch. JETZT!“ luden Ärzte gegen Tierversuche e.V. und Menschen für Tierrechte – Bundesverband der Tierversuchsgegner e.V. zu einem Informationsabend mit drei Vorträgen ein. Insbesondere in den letzten Jahren sind ja viele Veranstaltungen online gelaufen, trotzdem war dies für unsere Vereine eine Premiere: Es war eine internationale Veranstaltung mit Vortragenden aus den USA, den Niederlanden und Luxemburg. Das Line-up stieß auf breites Interesse: Bei der Veranstaltung selbst schalteten sich bis zu 220 Menschen aus aller Welt zu.
Die auf Veranstaltung, welche komplett auf Englisch abgehalten wurde, eröffnete Dr. Tamara Zietek, die Koordinatorin des Wissenschaftsteams bei ÄgT. Sie war selbst in der humanbasierten Forschung tätig und damit eine weitere Expertin in der Runde, die souverän durch das Event führte.
Die Veranstaltung, welche komplett auf Englisch abgehalten wurde, eröffnete Dr. Tamara Zietek, die Koordinatorin des Wissenschaftsteams bei ÄgT. Sie war selbst in der humanbasierten Forschung tätig und damit eine weitere Expertin in der Runde, die souverän durch das Event führte.
Zusammenfassung
Dr. Aysha Akhtar
Den ersten Vortrag hielt Dr. Aysha Akhtar. Sie ist Fachärztin für Neurologie, Präventivmedizin und Public Health, zudem Mitgründerin und Vorsitzende des Center for Contemporary Science in den USA. Ihr Vortrag “Why we must replace animal testing and how to do it – first steps in the U.S.” (Warum wir Tierversuche ersetzen müssen und wie das gehen kann – erste Schritte in den USA) begann mit der fehlenden prospektiven Übertragbarkeit von Tierversuchsergebnissen auf den Menschen am Beispiel der Medikamentenentwicklung. Sie sprach auch das Thema Diversität an, ebenso, dass schon Menschen unterschiedlich reagieren – Tiere sind vom Menschen evolutionär noch weiter entfernt, so dass die bis zu 95 % Scheiternsquote vom Tierversuch bis zum Markteintritt zu ca. 70 % allein zulasten der Falschaussage der Tierversuchsergebnisse geht.
Anhand der Beispiele von Schlaganfall-Medikamenten und HIV-Impfstoffkandidaten warf sie zudem die Frage auf, welche potenziell wirksamen Therapien der Menschheit entgehen, weil Tiere nicht darauf reagiert haben – was ja aber nicht zwangsläufig bedeutet, dass diese keine heilende Wirkung im Menschen zeigen würden.
Sie betonte auch die Wichtigkeit, die nächste Generation zu schulen – neben angehenden Wissenschaftlern in allen Forschungsbereichen auch Stakeholder und Behörden. Hier müssten neue Programme konzipiert bzw. bestehende überarbeitet werden. Gleiches gilt für Politik und Gesetze, denn auch hier muss an Stellschrauben gedreht werden. Auch in Hinsicht auf finanzielle Förderung: dies ist essenziell, da es zu wenig Gelder für die Entwicklung und Validierung humanbasierter Methoden gibt. Die Pharmaindustrie könnte als Verbündete betrachtet werden, denn diese sind sehr an den humanbasierten Methoden interessiert und nutzen diese bereits zum großen Teil.
Ein weiterer Punkt wäre eine Änderung der Narrative, was mit dem FDA Modernization Act 2.0 in den USA bereits angegangen wurde: das Wort „Tiere“ wurde durch „nicht-klinische Tests“ ersetzt – somit wird nicht mehr impliziert, dass Tiere die (einzige) adäquate Testmethode sind. Explizit werden dort zudem tierversuchsfreie und humanbasierte Methoden erwähnt wie zellbasierte Assays, mikrophysiologische Systeme (wie Multi-Organ-Chips), 3D-Biodruck und Computermodelle. Dass diese recht neuen Methoden verhältnismäßig zügig Einzug in Gesetze hielten, mag schnell erscheinen, ist aber ist auch logisch, da es heutzutage so viele innovative Methoden gibt. Die tatsächliche Umsetzung wird aber wahrscheinlich leider nicht so schnell gehen: Firmen müssen einen Risikominimierungsprozess etablieren, zudem wird nicht so viel Geld bereitgestellt, wie nötig wäre, um die bestehenden Methoden zu verbessern, zu validieren und neue zu entwickeln. Nichtsdestotrotz ist das Fazit positiv: es ist ein wichtiger Schritt getan.
Prof. Dr. Merel Ritskes-Hoitinga
Prof. Dr. Merel Ritskes-Hoitinga ist Professorin für Evidenzbasierten Übergang zu tierversuchsfreien Innovationen an der Veterinärmedizinischen Fakultät der Universität Utrecht und präsentierte als zweite Rednerin. Ihr Vortrag “Accelerating the transition to an animal-testing-free world: how can we achieve this together?” (Beschleunigung des Übergangs zu einer tierversuchsfreien Welt: Wie können wir dies gemeinsam erreichen?) begann mit einem persönlichen Überblick: sie hält einen Lehrstuhl inne, welcher weit über die üblichen 3R hinausgeht. Sie hat sich schon früh mit dem Thema Übertragbarkeit von Tierversuchsergebnissen auf den Menschen beschäftigt, da sie sich auch über das oft mangelhafte Studiendesign und die ebenso selten sorgfältige Auswertung wunderte – trotz Publikation in hochrangigen Fachzeitschriften.
Mit der Etablierung von systematischen Reviews stieß sie zunächst auf Widerstand in der wissenschaftlichen Community, aber wie es meist mit neuen Konzepten ist, die erst abgelehnt werden, wurden systematische Reviews nach und nach angenommen und am Ende auch aktiv angewendet. Nichtsdestotrotz muss ein Übergang zu humanbasierten Methoden angestrebt werden, welcher auch wieder Widerstand erzeugen wird. Die Niederlande sehen sich als Katalysator im internationalen Umfeld für diesen Übergang, weshalb auch das niederländische Transition Program to animal-free Innovation (Übergangsprogramm zu tierfreien Innovationen), TPI, in Leben gerufen wurde. Ziel ist es, wissenschaftliche Methoden mit besseren Voraussagen ohne Tierverbrauch zu etablieren. Neben den Universitäten gibt es verschiedene Stakeholder, die das Programm aktiv unterstützen. Da ein Land für sich den Weg nicht allein gehen kann, wird sich auch um internationale Zusammenarbeit bemüht, um z.B. Validierungsverfahren international zu beschleunigen. Zunächst auf EU-Ebene, langfristig auch außerhalb der EU.
Aufgrund der positiven EU-Parlamentsabstimmung zu einem EU-Ausstiegsplan aus dem Tierversuch hat die Radbound University projektbezogen ein Modell entworfen, das die Schwierigkeiten eines Übergangs identifiziert, so dass daraus Prioritäten abgeleitet werden können und wie somit dieser Übergang schneller gelingen kann.
Bei Chemikalien und Pharmazeutika besteht besonderer Bedarf, hier müssen neue Lösungen für Sicherheitsbewertungen her, daher sollte sich zunächst auf NGRA (Next Generation Risk Assessment) konzentriert werden, wobei hier der Ansatz völlig neu gedacht und ohne Tierverbrauch sei – zunächst aber müssen die Vorbehalte der NAMs (New Approach Methods oder Non-Animal Methods) abgebaut werden.
Wissenschaftliche Nachweise allein sind offensichtlich nicht ausreichend für eine tatsächliche Veränderung - es braucht nicht nur verschiedene Methoden, die verfeinert werden müssen, zudem muss die Forschung inter- und transdisziplinär sein – das bedeutet: auch die Gesellschaft muss eingebunden werden. Denn: es braucht zu lange. So wurde der zellbasierte Monozyten-Aktivierungstest (MAT) (zum Nachweis von Pyrogenen, wofür sonst Kaninchen verwendet werden) vor 25 Jahren validiert, wurde aber erst kürzlich in die Pharmakopöe der EU aufgenommen, ist aber immer noch nicht in den USA regulatorisch akzeptiert.
Trotzdem gibt es positive Strömungen: Sanofi-Aventis hat bekannt gegeben, den Tierverbrauch global im Zeitraum von 2020 bis 2030 um ganze 50 % zu senken. Ein Medikament, welches für eine weitere Indikation in klinischen Studien getestet werden soll, wurde von der FDA ohne erneute Tierversuche, nur mit Daten aus NAMs, für die klinischen Studien zugelassen. Eine Publikation zeigt, wie NAMs besser wissenschaftlich akzeptiert werden können. Neben dem US Modernization Act 2.0 sieht man auch auf europäischer Ebene positive Strömungen: eine Roadmap für Chemikalientestungen soll erstellt werden, die EMA (Europäische Arzneimittelagentur) hat eine 3R-Arbeitsgruppe und die ECHA (Europäische Chemikalienagentur) lädt zu einem NAM-Workshop im Frühsommer ein.
Die EU hat zudem E-Learning Programme (ETPLAS) entwickelt, u.a. finden sich dort auch Informationen und Kurse zu NAMs. In den Niederlanden haben die Universitäten ein Statement herausgegeben, in dem sie sich zu Reduktion des Tierverbrauchs bekennen, was hoffentlich auch zu einem veränderten Mindset führt. Transdisziplinäre Ansätze hat das Projekt mit der Rechtwissenschaftlichen Fakultät der Uni Zürich, in dem die rechtswissenschaftliche Perspektive des Themas angegangen wird, da durchaus auch Gerichte effektiv Tierversuche verhindern und somit als potenzielle Beschleuniger des Übergangs agieren können.
Fazit: Wissenschaft und Technologien sind vorhanden - evidenzbasierte Entscheidungsfindung, transdisziplinäre Forschung und Bildung (Zusammenschluss von Interessengruppen), Mehrebenenperspektive, transformative Regierungsausübung im Hinblick auf international harmonisierte Rechtsvorschriften und Strategien sind entscheidend, den Weg zu einer tierversuchsfreien Zukunft zu ebnen.
Tilly Metz
Den politischen Part übernahm Tilly Metz. Sie ist Mitglied des Europa-Parlaments, Mitglied der Grünen/Freie Allianz und Vorsitzende der Intergroup für Tierschutz des Europa-Parlaments. Entsprechend ging es in ihrem Vortrag „Phasing out animal experiments in the EU: a European Parliament perspective” (Abschaffung von Tierversuchen in der EU: eine Perspektive des Europäischen Parlaments) um die Sicht aus EU-Ebene. Sie sieht die Tradition des Tierversuchs als größtes Hindernis für den Übergang, sowohl bei Wissenschaftlern als auch bei Politikern und Interessenvertretern.
Zwar ist die Richtlinie 2010/63/EU (Tierversuchsrichtlinie) mit die strengste weltweit, da sie perspektivisch den vollständigen Ersatz von Tierversuchen vorsieht, aber: sie hat keine Timeline, keine Meilensteine, kein Budget und nicht genug Koordination, somit also keine Strategie. Diese ist aber dringend nötig, gemessen an den knapp 10 Millionen Tieren, die 2017 EU-weit in Laboren litten. Eine extrem große Zahl, jedoch wird nur erschreckende 0,1 % des Budgets für NAMs ausgegeben. Dass die EU-Bürger diese aber Tierversuchen gegenüber bevorzugen, zeigen mehrere Umfragen. Das Tierversuchsverbot wird leider immer noch unterwandert, indem Tierversuche mit dem Argument der Arbeitssicherheit verlangt werden, während aber die Industrie davon weg möchte – auch, weil Verbraucher dies verlangen, was die Europäische Bürgerinitiative „Save Cruelty Free Cosmetics“ gezeigt hat.
Als 97 % EU-Parlamentarier im September 2022 für einen EU-Ausstiegsplan stimmten, zeigte sich, dass die allgemeine Ansicht sich langsam zu wenden scheint.Leider zeigte die Kommission keine wirkliche Aktion danach; es wird weder ein konkreter Plan angestrebt, noch gibt es eine erneute Bekennung zum Ausstieg, daher ist und bleibt politischer und öffentlicher Druck wichtig.
Nichtsdestotrotz zeigt sich ein Fortschritt, auch hier wurde auf die jüngsten Schritte von ECHA und EMA verwiesen. Allerdings müssten Aktivitäten in dieser Hinsicht besser über alle Mitgliederstaaten und -behörden koordiniert werden, also eine EU-weite Kollaboration und Koordination, klare Meilensteine, Identifizierung von zentralen Forschungsschwerpunkten sowie eine neue Infrastruktur geschaffen werden. Unterm Strich hat der Ausstieg aus dem Tierversuch gleich mehrere Benefits: ethisch, wissenschaftlich und ökonomisch.
Im Anschluss gab es die Gelegenheit, Fragen über den Chat zu stellen, die dann an die Referenten weitergegeben wurden – diese Möglichkeit wurde so reichlich genutzt, dass lange nicht alle Fragen gestellt werden konnten, denn dann hätte die Veranstaltung sicherlich bis nach Mitternacht gedauert. Insgesamt zeigten alle Vorträge deutlich auf, dass es mehr als überfällig ist, die Kräfte zu bündeln und die tierversuchsfreien, humanbasierten Methoden in allen Bereichen die Anerkennung zu verschaffen, die sie verdienen, dass endlich eine angemessene Förderung festgelegt werden muss und eine bessere Vernetzung und Kommunikation unerlässlich ist – also ein konkreter Plan für den Ausstieg.
Für alle, die das eigentliche Event verpasst haben oder aufgrund der englischen Veranstaltungssprache nicht teilnehmen wollten, hier eine gute Nachricht zum Schluss: die Veranstaltung wurde aufgezeichnet und ist mit der Möglichkeit des Einstellens deutscher Untertitel auf unserem gemeinsamen YouTube-Kanal „Ausstieg aus dem Tierversuch“ für alle verfügbar.
Wir bedanken uns bei den drei Vortragenden, die uns allen einen spannenden und vielversprechenden Einblick geboten haben!
10. Mai 2023,
Dipl.-Biol. Julia Radzwill